Noch vor Ende des Zweiten Weltkrieges wird begonnen, die Erinnerungen von Überlebenden zu sammeln und zu dokumentieren. Seitdem hat sich die Rolle der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sowie die Funktion ihrer Erzählungen stetig gewandelt. Heute sind sie aus der öffentlichen Wahrnehmung kaum noch wegzudenken. Dies war jedoch nicht immer so.
Fragebogen für Zeugengespräche, 1945; Emanuel Ringelblum Jüdisches Historisches Institut, Warschau
Die Anleitung für Interviews wird von der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission (ab 1947 Jüdisches Historisches Institut Warschau) herausgegeben. Holocaust-Überlebende gründen die Kommission 1944 in Lublin. Sie sammeln Zeugnisse von Überlebenden der Ghettos, der Konzentrations- und Vernichtungslager, aber auch Erinnerungen an die zerstörten jüdischen Gemeinden und Beweismaterial gegen NS-Täter*innen. Um diese Aufgabe erfüllen zu können, entstehen unter anderem ausführliche Anleitungen für den Umgang mit traumatisierten ehemaligen Häftlingen und Partisan*innen sowie mit Kindern und Jugendlichen.
Hunderte Überlebenden-Interviews werden zwischen 1944 und 1947 von der Historischen Jüdischen Kommission geführt. Sie münden in unzählige wissenschaftliche Arbeiten auf Jiddisch, Polnisch und Russisch. Erst seit Anfang der 1990er Jahre werden diese Forschungen international wahrgenommen.
"Lang ist der Weg", Spielfilm, Deutschland 1948, National Center for Jewish Film, Brandeis University
„Lang ist der Weg“ (jiddisch: Lang iz der veg) fokussiert als einer der ersten Spielfilme das Schicksal jüdischer Überlebender und ihrer Lebensbedingungen nach dem Krieg. Er ist der einzige in Deutschland in jiddischer Sprache gedrehte Film. Im Zentrum der Handlung steht die Verfolgungsgeschichte des polnischen Juden David Jelin. Nach dem Krieg findet er im DP-Lager Landsberg seine totgeglaubte Mutter wieder, heiratet und gründet eine Familie. Der 1948 erschienene Film thematisiert explizit das schwere Trauma Holocaust-Überlebender und suggeriert gleichzeitig, dass die Hoffnung auf eine bessere Zukunft nur in dem noch nicht existierenden Staat Israel liegen kann.
Die Rolle des David Jelin übernimmt der polnisch-jüdische Autor und Schauspieler Israel Beker, der auch das Drehbuch schreibt. Nach dem Krieg gründete Beker im DP-Camp Landsberg zusammen mit anderen Überlebenden eine jiddische Theatergruppe. Die Erfahrungen der Gruppenmitglieder bilden die Grundlage für den Film. Vor allem Bekers Flucht aus einem Zug, durch die er sich vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten retten kann, wird zu einer Schlüsselszene. Die Dreharbeiten in den Studios der Bavaria sind jedoch nicht immer spannungsfrei. Die einheimischen Filmkräfte waren häufig Mitläufer und verhindern eine stringente jüdische Perspektive.
Zeugenaussage Yehiel Dinur, Jerusalem 7.6.1961; Yad Vashem, Gedenkstätte der Märtyrer und Helden des Staates Israel im Holocaust, Jerusalem / Israel State Archives, Jerusalem
Adolf Eichmann steht 1961 vor den Augen der Weltöffentlichkeit in Jerusalem vor Gericht. Über den Prozess wird weltweit im Fernsehen berichtet. Im Gegensatz zu vorherigen Gerichtsverhandlungen, oder den ebenfalls in den 1960er Jahren stattfindenden Frankfurter Auschwitz Prozessen, stehen erstmals die individuellen Erlebnisse der Überlebenden im Mittelpunkt. Kaum einer der Zeuginnen und Zeugen ist Eichmann jedoch persönlich begegnet.
Damit wird die Rolle der ehemals Verfolgten neu definiert: Sie treten nicht mehr nur als Zeug*innen individueller Taten auf, sondern sollen vielmehr ein Bild vom Ausmaß der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik vermitteln. Und auch Täterschaft wird neu verstanden: Statt einer spezifischen Tathandlung führt Eichmanns Rolle als Planer des Massenmordes an den europäischen Jüdinnen und Juden zu seiner Verurteilung.
Am 68. Verhandlungstag tritt der israelische Schriftsteller Yehiel Dinur, der unter dem Pseudonym Ka-Tzetnik bekannt geworden ist, in den Zeugenstand. Dinur beschreibt in seiner Aussage den „Planet Auschwitz“ und spricht in der Rolle derer, die ermordet worden sind. Vielfach wird spekuliert, ob seine Zeugenaussage und der darauffolgende körperliche Zusammenbuch eine gezielte dramatische Inszenierung ist, um die öffentliche Aufmerksamkeit auf die emotionale Belastung der Zeugen zu lenken – oder gar auf sein eigenes schriftstellerisches Schaffen.
Brief an den WDR, 24.1.1979; Technische Universität Berlin, Zentrum für Antisemitismusforschung
Im April 1978 zeigt der US-amerikanische Sender NBC erstmals die selbstproduzierte Miniserie „Holocaust“. Am Beispiel der fiktiven jüdisch deutschen Familie Weiss erzählt die Serie die Geschichte der Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden zwischen 1933 und 1945 und beleuchtet dabei auch zentrale Stationen des Holocaust. Blanche Baker, Tochter der Schauspielerin Carroll Baker und des Flossenbürg-Überlebenden Jack Garfein, wird für ihre Darstellung der Anna Weiss mit einem Emmy Award als beste Nebendarstellerin ausgezeichnet. Die Ausstrahlung ist nicht unumstritten. Der NBC wird unter anderem vom Überlebenden Eli Wiesel vorgeworfen, die Serie vor allem aus kommerziellem Interesse produziert zu haben und damit das Leid der Opfer in Form einer Seifenoper zu trivialisieren.
In der BRD löst „Holocaust“ bereits vor der Erstausstrahlung im Januar 1979 heftige Proteste aus. Viele sehen die Serie als Nestbeschmutzung. Wegen der rigiden Haltung des Bayerischen Rundfunks wird die Serie nicht in der ARD, sondern in den Dritten Programmen ausgestrahlt. Mit zeitweise mehr als 20 Millionen Zuschauer*innen wird „Holocaust“ zum Medienereignis. In den deutschen Wohnzimmern diskutieren die Bundesbürger*innen intergenerationell über Mitwissertum und eigene Verantwortung. Besonderen Einfluss hat die Serie durch die Darstellung persönlicher Schicksale der Verfolgten, an denen die bundesdeutsche Öffentlichkeit bis dato wenig Interesse hatte.
Der federführende WDR sendet im Anschluss an jede Folge eine Diskussionsrunde, in der Zuschauer*innen Fragen stellen können. Den WDR erreichen mehr als 20.000 Anrufe sowie unzählige Briefe und Schreiben. Während sich die Mehrheit schockiert über die Ausmaße des Holocaust äußert, gibt es auch solche Zuschriften, in denen die Wahrheit des Gezeigten in Frage gestellt wird.
Art Spiegelman: Maus. A Survivor’s Tale. Chapter Seven (Erstveröffentlichung), in: RAW, No. 8, 1982; Ole Frahm, Frankfurt a.M.
Die Graphic Novel Maus von Art Spiegelman wird im Zeitraum von 1980 bis 1991 in einzelnen Episoden im Comicmagazin Raw publiziert und erzählt die Geschichte seines Vaters, einem Holocaust-Überlebenden. Spiegelman schildert jedoch nicht nur dessen Erlebnisse während des Holocaust, sondern verdeutlicht auch, mit welcher Bürde die Nachkommen der Überlebenden durch die Erzählungen der Eltern belastet wird.
In den 1980er Jahren beginnen die Kinder und Enkelkinder der Überlebenden sich kritisch mit dem Schicksal der Eltern und Großeltern auseinanderzusetzen. Im Rahmen dessen reflektieren sie auch ihre eigene Identität. Zudem markieren die Auseinandersetzungen das frühe Nachdenken über die Endlichkeit der Zeitzeugenschaft und die Frage, ob und wie dieses Erbe von den folgenden Generationen weitergetragen werden kann.
Schindlers Liste, Spielfilm von Steven Spielberg, 1993; Ronald Grant Archives / Mary Evans / picturedesk.com
Das Foto entsteht bei den Dreharbeiten zum Spielfilm Schindlers Liste in Polen und zeigt Steven Spielberg zusammen mit dem Schauspieler Liam Neeson, der im Film Oskar Schindler verkörpert. Als der Film 1993 veröffentlicht wird, löst er einen wahren „Erinnerungsboom“ aus. Unzählige Holocaust-Überlebende verfassen ihre Memoiren. In deren Folge entstehen wiederum zahlreiche Spielfilme, TV-Dokumentationen und Zeitzeugeninterviews.
Ein immer größeres Publikum erwartet immer mehr emotionale und authentische Überlebensgeschichten. Und auch die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen nehmen diese neue, öffentliche Möglichkeit des Gehört-Werdens in Anspruch und betreten die Bühne. Sie sind die Protagonisten der Interviews, die unter anderem von der USC Shoah Foundation – finanziert aus den Einnahmen des Films Schindlers Liste – weltweit durchgeführt werden. Die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen werden zu gern gesehenen Gästen in Talk-Shows und anderen Fernsehformaten. Auch Opfergruppen, wie Sinti und Roma, Homosexuelle und Zwangsarbeiter*innen, für die es in den vier Jahrzehnten zuvor wenig oder keinen Raum gegeben hat, treten jetzt in die Öffentlichkeit.